Krisen und die gesellschaftliche Verantwortung

Unsere Forschungsexpert*innen geben auf Basis von 40 Radar-Wellen Einblick in gelungene Kommunikation in Krisenzeiten

04.01.2023

Zweieinhalb Jahre Forschung

März 2020 – der erste Corona-Lockdown. Ein Ereignis, das die Menschen zunächst erschüttert, langfristig aber auch verändert hat. Die Unsicherheiten waren groß: Was bedeutet das „Herunterfahren“ des öffentlichen Lebens für die Menschen, die Gesellschaft und die Wirtschaft? Und wie sollte die Markenkommunikation darauf reagieren? Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht kurz nach dem Lockdown eine erste Bestandsaufnahme zum Stimmungsbild der Deutschen zu machen und starteten eine Bevölkerungs-repräsentative Online-Umfrage in Zusammenarbeit mit dem renommierten Forschungsinstitut Norstat. Inzwischen ist daraus eine konsistente Langzeitstudie mit 40 Wellen bis September 2022 geworden. Der pilot Radar dokumentiert und analysiert kontinuierlich die Ausschläge und Veränderungen in den Stimmungen, Einstellungen sowie – daraus resultierend – der Ausgabebereitschaft und dem Konsumverhalten. Und dies immer mit direktem Bezug auf die aktuellen Ereignisse: Statt der Mono-Krise Corona werden inzwischen die Implikationen der aktuellen Multi-Krisen von Ukraine-Krieg bis Inflation beobachtet. Auf Basis der bisherigen Datenlage aus zweieinhalb Jahren Radar-Forschung lassen sich signifikante Entwicklungen und Trends ausweisen.

Der pilot Radar hat dabei gezeigt, dass Menschen in Zeiten der Unsicherheit nach Orientierung suchen – in ihrem engeren sozialen Umfeld, in den Medien und durchaus auch bei Marken. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Werbung sowie neue Medientrends (z.B. Clubhouse, Social Shopping, Metaverse) im Leben der Menschen eine weitaus geringere Rolle spielen als sich dies Marketers und Agenturen häufig eingestehen wollen. In diesem Spannungsfeld liefert der pilot Radar regelmäßig wichtige Erkenntnisse für eine erfolgreiche Markenkommunikation in Krisenzeiten.

*Dieser Beitrag aus der Feder von unseren Expert*innen Martina Vollbehr und Daniel Daimler erschien zu erst im „Best of 2022“ Jahrbuch der OMG.

Zeitenwende zurück in die Konsens-Realität​

Die Corona-Pandemie war seit Ende des zweiten Weltkriegs die erste Krise, die wieder für alle Bürger*innen unmittelbar spürbare physische und soziale Auswirkungen hatte: Infektionen und Krankheitsverläufe, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Hygieneauflagen und Maskenpflicht. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Problemthemen wie Globalisierung oder Klimakrise vorrangig von politisch überdurchschnittlich interessierten Kreisen und maßgeblich in den Medien wahrgenommen. Es handelte sich daher eher um „virtuelle“ Probleme ohne direkten persönlichen Bezug. Ausnahme: Die Aktivierung der jungen Fridays-for-Future-Bewegung im Vor-Corona-Jahr. Gesellschaftlich betrachtet hat Corona im März 2020 für einen Initialschock gesorgt und ein persönlich empfundenes „Problembewusstsein“ in den gesellschaftlichen Mainstream befördert. Damit hat die Pandemie – zumindest kurzfristig – etwas geschaffen, was zuvor durch zunehmende gesellschaftliche Fragmentierung abhandengekommen zu sein schien: eine gemeinsame Konsens-Realität. Dies dokumentieren auch die Radarergebnisse:

  • In den ersten drei Wellen stimmten im Durchschnitt zwei Drittel der Befragten der Aussage zu „Die Corona-Pandemie schweißt uns als Gesellschaft stärker zusammen“.
  • Dieses Gefühl des Zusammenhalts begann jedoch schon bald wieder zu bröckeln:
    Bis Ende Dezember 2020 war dieser Wert auf 38 Prozent gesunken, bis Ende Dezember 2021 auf 24 Prozent.

Die damals klar zu beobachtende Verschiebung mit einer stärkeren Hinwendung zum Kollektiv versus Individuum förderte beispielsweise auch das Vertrauen, dass „Marken in dieser Zeit mehr an die Gesellschaft denken als an den Profit“.

Konsequenz: Suche nach Orientierung​

Im Oktober 2020 hat pilot nach einem halben Jahr Radar-Forschung vier Zielgruppen-Typen segmentiert, die nach sozio-ökonomischer Gelassenheit und kollektivistischer Orientierung differenzieren.Seither hat sich aber der Bedrohungsfaktor der Ereignisse verschärft, wir leben unter dem Eindruck einer multiplen Krisenlage. Klimakrise, Endlos-Pandemie, Kriegsgefahr in Europa, Wirtschafts- und Energiekrise, galoppierende Inflation – in der Konsequenz steht die Gesellschaft knapp zwei Jahre später vor einer Orientierungskrise. Das Stimmungsbild verhält sich volatil und situations- bzw. krisenbezogen. So zeigten sich zwei signifikante Ausschläge:

  • Mit Beginn des Ukraine-Krieges ist im Zuge eines plötzlichen Bedrohungs-Szenarios der Anteil kollektivistischer Orientierung signifikant angestiegen, aber in den darauffolgenden Wochen wieder gesunken. Die Deutschen hatten sich schnell an die tägliche Kriegsberichterstattung gewöhnt, an Nachrichten, die sie persönlich nicht so direkt betreffen wie etwa eine Corona-Infektion.
  • Gleichzeitig ist der Anteil sozio-ökonomischer Gelassenheit seit Beginn des Krieges signifikant gesunken und im Kontext von Inflation und Energiekrise auf geringem Niveau verblieben.

Für die Zielgruppensegmentierung bedeutete das: Der Anteil der Bedrängten (geringe sozio-ökonomische Gelassenheit, geringe kollektivistische Orientierung) liegt inzwischen allein schon bei 50 Prozent der repräsentativen Radar-Stichprobe.

Markenkommunikation kann gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen

Diese Veränderungen im Stimmungsbild und Wertegerüst der Deutschen sollten auch in Markenstrategien berücksichtigt werden. Deutlich zeigte sich im Laufe der Radar-Forschung auch eine klare Korrelation zwischen Stimmung und Ausgabebereitschaft, die fast parallel zueinander stiegen oder fielen. Gleichzeitig reagieren die Konsument*innen in Krisensituationen auch deutlich preissensibler. Auch die Einstellung gegenüber Marken und ihrer Kommunikation bleibt davon nicht unberührt. Wie bereits im April 2021 (Welle 26) wurden in der Radar-Befragung im September 2022 wieder Indikatoren der Werbeakzeptanz erhoben.

Zur Erklärung: Hygiene-Faktoren sollten als Basisanforderungen in der Konzeption und Umsetzung unbedingt berücksichtigt werden. Dies gilt für die klare Kennzeichnung als Werbung oder den wirksamsten kontextuellen Bezug zum Werbeumfeld. Leistungsfaktoren können Werbewirkung treiben, wenn sie handwerklich gut umgesetzt sind und zur Marke passen, wie beispielsweise die kreative Gestaltung oder Inhalte, die Haltung vermitteln oder auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt Bezug nehmen.

Letztere rangieren zwar noch immer hinter der Kreation, haben aber gegenüber April 2021 an Relevanz gewonnen. Begeisterungsfaktoren schließlich generieren überproportional starke Werbewirkung, wenn die Hygienefaktoren erfüllt und die Leistungsfaktoren ausgeschöpft sind. Hierzu zählen die Vermittlung positiver Emotionen, Rabattkommunikation oder – mit einem besonders starken Relevanz-Zuwachs – der „Bezug auf aktuelle Krisen“. Im Vergleich zum Lockdown-Zeitraum an Ostern 2021 zeigt sich in der letzten Abfrage vor allem eine signifikante Veränderung: Der Indikator „wahrgenommene Relevanz des Produkts“ hat aus Sicht der Konsument*innen stark gewonnen und ist von einem Begeisterungsfaktor zu einem harten Hygienefaktor geworden. Das bedeutet, dass dieses Item zu einer Grundvoraussetzung in der Werbekommunikation geworden und somit unerlässlich ist, damit weitere Faktoren die Chance bekommen, ihre Wirkung zu entfalten.

Die Grafik zeigt auf der horizontalen Achse, um wie viele Prozentpunkte die Relevanz des Items im Vergleich zu April 2021 zu- oder abgenommen hat. Die vertikale Achse zeigt den aktuellen Relevanz-Wert im September 2022 für das entsprechende Item an. Zum Beispiel: Die Vermittlung positiver Emotionen durch die Werbung hat im Vergleich zu April 2021 an Relevanz verloren, ist aber aus Sicht der Befragten weiterhin relevanter als Rabattkommunikation. Beide genannten Aspekte sind Begeisterungs-Faktoren, d.h. sie werden mehr honoriert, wenn sie vorhanden sind, als dass sie vermisst werden, wenn sie nicht vorhanden sind.

Haltung ist kein Schönwetterthema

Auch wenn sich die Grundmuster bei den Wirkungsfaktoren nicht grundlegend verändert haben, ist in der Entwicklung der Produktrelevanz eine Verschiebung in den Präferenzstrukturen der Verbraucher*innen weg vom Nice-to-have-Konsum zu erkennen. Dabei ist die Einstellung gegenüber der Rabattkommunikation trotz der zunehmenden Preissensibilität relativ konstant geblieben. Für die Marken bedeutet dies, dass Produkte und Dienstleistungen noch deutlich stärker als bisher ihren Mehrwert im Leben der Menschen kommunizieren müssen, anstatt lediglich als günstiger wahrgenommen zu werden. Um diesen Mehrwert glaubwürdig zu vermitteln, ist neben einer inhaltlichen Ausrichtung, die zur Marke passt, auch eine regelmäßige Präsenz der Kommunikation erforderlich. Letztendlich sind nur sichtbare Marken auch relevante Marken.

Was erwarten die Menschen in diesen Zeiten nun inhaltlich von den Marken? In den Radar-Analyse zeigen sich einkommensbedingte Unterschiede. So stehen bei Gutsituierten mit einem Haushaltsnettoeinkommen von über 4000 Euro ökologische Themen wie die Bekämpfung des Klimawandels oder die nachhaltige Produktion der Produkte weiterhin im Fokus. Dagegen erwarten Menschen mit geringeren finanziellen Möglichkeiten vor allem Engagement für soziale Gerechtigkeit oder die Unterstützung sozial Benachteiligter. Aber unabhängig vom Einkommen rangieren zwei Themen am Ende der Skala: die Unterstützung der Corona-Maßnahmen sowie von Flüchtlingsprojekten.

Fazit: Auch Markenkommunikation kann durch Präsenz, kreative Relevanz und einen Optimismus, der glaubwürdig zur werbenden Marke passt, eine Konsens-Realität erzeugen – und dadurch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Kontakt

Martina Vollbehr
Geschäftsführerin

+49 (0)40 30 37 66-63 +49 (0)40 30 37 66-63
m.vollbehr(at)pilot.de

Kontakt

Daniel Daimler
Leiter Marktforschung

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d.daimler(at)pilot.de

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