Potenziale für eine neue Medienwelt

Ein Gastbeitrag von pilot Geschäftsführer Kristian Meinken im BDZV Jahresreport 2021

09.07.2021

Es folgt: Die Werbung

Die großen Print-Marken und pilot sind schon sehr lange Weggefährten. 2014 durfte ich mit einem Gastbeitrag und neun Thesen zu einem Jahresreport des BDZV beitragen. Sie begannen provokativ mit „Die Digitalisierung des analogen Originals ist zu wenig“, waren eine Forderung nach besserer Qualität und Messbarkeit digitaler Werbeflächen und mahnten zuletzt: „Die digitale Realität lässt sich nicht aussitzen“.

Nun stellt sich die Frage – wie steht es heute, sieben Jahre später, um die diskutierten Aspekte? Können wir, ganz unabhängig von herausfordernden Thesen, zufrieden sein mit dem, was wir für den Medienstandort erreicht haben? Haben wir zumindest genug auf den Weg gebracht?

Für beides gilt: Ganz sicher nicht.

Die Medienrealität

Die Ausgangslage

Gewiss hat sich einiges Positive im Markt getan. Nicht zuletzt haben Pandemie und Lockdown- Maßnahmen noch einmal einen deutlichen Digitalisierungsschub bei den Nutzer:innen ausgelöst. Zur Inspiration lohnt ein Blick zu so manchem deutschen Medien-Startup, das mit starken Ideen und konsequenter Umsetzung erfolgreiche Geschäftsmodelle schafft. Aber für den Gesamtmarkt betrachtet reichen die Anstrengungen weiterhin nicht aus. Vor allem vollzieht sich der Wandel nicht schnell genug. Dabei sind es doch nach wie vor die etablierten Medienunternehmen, die für handwerklich und inhaltlich vertrauenswürdige journalistische Arbeit und redaktionelle Qualität stehen. Dieses wertvolle Kapital allein sollte Ansporn und Rückhalt geben, um in großem Umfang in zukunftsfähige, „generationengerechte“ Publikationsformen zu investieren und anpassungsfähiger in den Geschäftsmodellen zu sein

Das, was heute noch groß ist – beispielsweise im Sinne von Mediennutzungszeit – wird kleiner. Alles, was derzeit wächst, wird nie mehr an die Größen vormaliger Zeiten heranreichen können. Menschen wählen aus immer mehr Plattformen, Arten der Content-Präsentation, Nutzungsmöglichkeiten – und sie erhalten ihre Inhalte aus einer zunehmenden Zahl von Quellen. Damit ist das ehemals geflügelte Wort vom „user generated content“ längst abgelöst worden von dem mittlerweile weit treffenderen Begriff des „creator content“. Der Zugang zum Publishing, der Zugang zu Inhalten, der Zugang zu Werbeflächen – das steht allen zur Verfügung. Jeder Inhalt ist im Kern weiterhin werbefinanziert und wer den Zugang zu Werbeflächen auf die breiteste Zielgruppe ausrichten kann – global und für alle Werbebudgetgrößen – gewinnt den kommerziellen Wettlauf. Nationale oder regionale Werbetreibende und ihre Mediaagenturen entscheiden mittlerweile, eher darüber, was sie nicht einplanen, als darüber, was sie tatsächlich in ihre Pläne aufnehmen.

Denken wir nochmal sieben Jahre weiter. Wollen wir von dem, was zu tun ist, vieles nur „bedingt“ angegangen sein? Als Geschäftsführer einer Mediaagentur möchte man gern betonen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Aber das gilt fast nur noch im Hinblick auf unsere gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung. Denn geschäftlich ist das – leider – immer weniger der Fall. Noch investieren wir den sicherlich größten Teil unserer Kundenbudgets bei deutschen und europäischen Anbietern. Die aufsehenerregenden Innovationen aber kommen von weiter West und Ost. Dabei sind Sie, die Medienunternehmen es doch, die die Menschen vor Ort über Jahrzehnte kennen. Aber bleiben Sie ihnen mit Ihren Inhalten auch konsequent auf der Spur?

Was kann also getan werden, um Nutzer:innen mit journalistischer Exzellenz, mit relevanten Themen, publizistischer Qualität zu binden, sie abzuholen und umfassend zu bedienen?

Zuerst die Nutzerorientierung – und danach die Werbemärkte

Das „Fly Wheel“ konsequent weiterdrehen

Kennen Sie das Konzept des „Fly Wheel“ aus dem Marketing? Das Konzept wird größtenteils Amazon zugeschrieben. Es beschreibt das Bestreben, eine wesentliche Rolle in sehr vielen Momenten von Menschen zu spielen – und so den Wert der Beziehung zu diesen Menschen maximal auszubauen. Das „Fly Wheel“ ist sozusagen das Gegenteil von einer kleinteiligen Betrachtung des Umsatzes pro Page Impression. Natürlich sind auch Sie über Letzteres schon weit hinaus. Aber wie weit? Wenn Sie auf ein Subscription- oder Membership-Modell als Kern Ihrer Strategie zurückgreifen können, sind Sie bereits im Vorteil. Mit Blick auf Ihre Erlöse sind Sie ohnehin gezwungen, absolut nutzerzentriert zu agieren. Hier nun lohnt es sich, konsequent das „Fly Wheel“ weiterzudrehen: Welche Formate können Sie noch ergänzen, um eine wesentliche Rolle im Leben Ihrer Nutzer:innen zu spielen – auch jenseits Ihres publizistischen Kernangebots? Wo kannibalisieren die Infrastrukturen von Google, Facebook & Co. Ihr Geschäftsmodell und an welchen Stellen können Sie Ihr „Fly Wheel“ wieder selbst in die Hand nehmen? Wie sehr steht für Sie der „Customer Lifetime Value“ im Fokus – über alle Kontaktpunkte, über alle eigenen Inhalte, Dienstleistungen und Angebote hinweg?

Auf den ersten Blick scheinen Abo- oder alternative Bezahlmodelle aus Sicht der Werbung unattraktiv – diese gehen ja immer mit gewissen Reichweiteneinschränkungen einher. Was aber ist die Alternative? Weiterhin allein mit den Werbeformaten zu agieren, wie sie heute überwiegend im Angebot sind? Werbung ist vordringlich dort, wo Menschen in großer Zahl mit Freude und Intensität Inhalte nutzen. Allerdings, und das können wir Medienagenturen immer wieder belegen, macht alleinige Reichweite ohne Qualität häufig keine gute Kampagne. Kümmern Sie sich im Kern um Ihre Nutzer:innen und erst in zweiter Linie um den Werbemarkt. Denn ohne Nutzung kann es den Werbemarkt gar nicht erst geben.

Originalität anbieten

1.000 wahre Fans – auch für Medienhäuser?

„1.000 wahre Fans“ – so überschrieb der amerikanische Autor und „Wired“-Gründer Kevin Kelly einen mittlerweile ikonischen Artikel. Darin entwickelt er die Theorie, dass ein Creator nur 1.000 wahre Fans finden müsse, die bereit seien, 100 Dollar im Jahr zu zahlen, um so abzüglich einiger Kosten ausreichend Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Das Internet biete als Marktplatz alle Möglichkeiten, Inhalteschaffende mit ihren Fans und Kunden lukrativ zu­sammenzubringen. Der Artikel erschien 2008 zu einem Zeitpunkt, als gerade die ersten Crowdfunding-Plattformen auf den Markt kamen, als aber jüngere Innovationen wie die Plattform Substack noch nicht mal absehbar waren. Mit den Prämissen 1.000 und 100 lässt sich natürlich spielen. Wenn die Menschen bereit sind, deutlich mehr zu zahlen, können es auch lediglich 500 oder 100 Fans sein. Der Wirkungshebel ist in dem Fall, wie begehrt der dargebotene Inhalt wirklich ist. In diesem Zusammenhang sind Anfang 2021 beispielsweise die „Non-fungible-Token“ ein breit diskutiertes Thema. Das sind kryptografische Verfahren, um Datensätze einzigartig zu machen und damit digitale Inhalte für einen kleinen Kreis von Nutzer:innen exklusiv zu halten.

Langsam, aber stetig setzt sich unter den Internet-Nutzer:innen die Erkenntnis durch, das Kostenloses nicht immer kostenfrei ist und Wertvolles nicht immer verschenkt werden kann. Und es sind, wie das Beispiel zuvor zeigt, zunehmend mehr Technologien verfügbar, um exklusive Zugangsmodelle einfacher umzusetzen.

Die Theorie der 1.000 Fans ist für Medienhäuser natürlich ein Problem. Zum einen beruht das Geschäftsmodell darauf, ein eher größeres Publikum von 100.000 oder 1.000.000 Menschen anzusprechen. Gleichzeitig fällt es zusehends schwer, eine sehr große Zahl an Menschen davon zu überzeugen, entsprechende Beträge für eher generalistisch ausgerichtete Angebote zu bezahlen. Vor allem jedoch wird der Wettbewerb um Aufmerksamkeit immer schwerer, je einfacher es für Menschen ist, Inhalte nicht nur kostengünstig zu produzieren und zu distribuieren, sondern auch direkt und unkompliziert dafür vergütet zu werden.

Welchen Wert hat in dieser Situation die Organisation als Medienhaus und die Bündelung von Inhalten zu Publikationen, etwa unter einer Printmarke, wenn viele der vormals geschäftsprägenden Eigenschaften, wie der Zugang zu Produktion, Verteilung und Finanzierung von Medien, keinen Marktvorteil mehr bedeuten?

Es bleibt im Kern der Wert der Marke. Diese steht für qualitative Bündelung der Inhalte und die Bündelung qualitativer Reichweite, die sie dann über ein Netzwerk von Kooperationspartnern ausspielen kann. Das Medienhaus der Zukunft lässt sich dabei vielleicht am besten mit Top-Sportclubs vergleichen. Die erfolgreichsten Organisationen bieten talentierten Menschen eine starke Infrastruktur für Qualität und Weiterentwicklung. Sie organisieren deren Teamplay, lassen ihnen zugleich aber Platz für das eigene Spiel – und kuratieren auf diese Weise für die Zuschauer:innen gute Unterhaltung. Gleichzeitig werden Finanzierung und Vermarktung optimiert und für Reichweite auf möglichst vielen Kanälen gesorgt. Den wirtschaftlichen Erfolg sichert und steigert dieses Modell im Wesentlichen auf zwei Arten: Durch Entwicklung des eigenen Markt- und Markenwertes – und durch Entwicklung der Marktwerte der Talente.

Die Zusammenarbeit suchen

Bleiben wir noch kurz bei der Sport-Analogie: Eine neue Liga kann kein Verein allein aufbauen. Weitreichende Investitionen lassen sich mit Partnern oft leichter schultern und Risiken besser verteilen. Denn wo lauert der eigentliche wirtschaftliche Wettbewerb in einem globalen Informations- und Unterhaltungsmarkt? Doch eher zwischen den „Ligen“ als zwischen den „Vereinen“. Für europäische Medienhäuser muss es mehr denn je heißen: Zusammenarbeit bei digitalen Infrastrukturen, Austausch von redundanten Inhalten, Aufbau gemeinsamer Plattformen, von Kompetenzzentren ebenso wie von Gattungskampagnen, Talentschmieden, Ideenwettbewerben und Werbeformaten. Die besondere Schlagkraft liegt dabei nicht so sehr in defensiv ausgerichteten Regulierungsallianzen, sondern vielmehr in angriffslustigen Leistungsangeboten, soweit es der Rahmen des Wettbewerbsrechts zulässt. Die Spielräume dafür dürften vorhanden sein, denn Marktdominanz ist sicherlich kein plausibles Argument mehr für regulative Einschränkungen.

Innovationen schaffen

Dieser Wagemut ist vielleicht die beste Ausgangsbasis, um Neues zu schaffen für die neue Medienwelt da draußen. Das bedeutet auch, anzuerkennen, dass man auf den meisten der neu entstehenden Märkte nichts zu verlieren hat, nichts zu verteidigen. Aber Sie haben ein starkes Angebot für den Markt: überzeugende, etablierte, vertrauenswürdige Marken, talentierte, gut ausgebildete und motivierte Inhalteschaffende, und nicht zuletzt ein über lange Zeit entwickeltes Verständnis für die tiefliegenden Bedürfnisse der Menschen innerhalb der hiesigen Medienmärkte. Daraus entstehen Publikationen, die auch morgen noch Themen setzen, Menschen zusammenbringen, Reichweiten schaffen und Ge­schäftsmodelle ermöglichen. Es gibt also viel zu gewinnen. Sehr gern und bitte auch werbefinanziert. Als langjähriger Weggefährte freuen wir uns auf Ihre neuen Impulse.

Kontakt

Kristian Meinken
Geschäftsführer

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k.meinken(at)pilot.de

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